18 Juli 2010

Geboren für die Dose? Das Aussterben der Thunfische

Es erinnert schon ein wenig an Roland Emmerichs Katastrophenfilm „2012“. Darin wird die Idee aufgegriffen, dass laut Maya-Kalender in diesem Jahr die Welt untergehe. Der Menschheit stehe ihr jähes Ende bevor. Schwachsinn, sagen die einen; bedenklich, meinen die anderen.
Welche
Untergänge das Jahr 2012 tatsächlich mit sich bringt, bleibt abzuwarten. Prognosen können aber jetzt schon gestellt werden und so wie es aussieht, bleiben dem Menschen wohl noch ein paar Jahre - trotz Ölkatastrophe und Terrorismus. Für einen seiner beliebtesten Speisefische schaut die Sache allerdings ganz anders aus. Der Blauflossen-Thunfisch sieht 2012 weniger optimistisch entgegen. Laut einer Studie des WWF scheint sein Schicksal mit diesem Jahr endgültig besiegelt: Sie sagt seine Ausrottung voraus.

Ein Mini auf der Schnellstraße
Thunfisch ist nicht gleich Thunfisch - auch wenn man ihn einzig unter diesem Namen in Speisekarten oder auf Konservendosen findet. In der Biosystematik bilden die Thunfische eine eigene Gattung. Acht verschiedene Arten kommen darin direkt vor, andere, wie der Bonito, werden oft dazugezählt, obwohl sie mit den Thunfischen nur weiter verwandt sind. Trotz der Vielfalt, werden wir meist nur mit einer Thunfischart abgefertigt, wenn wir eine Konserve öffnen oder eine Pizza Tonno bestellen: Der Blauflossen-Thunfisch ist der unumstrittene Klassiker. Andere Quellen bezeichnen ihn als Rother Thun, Großer Thun - oder als Nordatlantischer Thun. Dieser Name spielt auf seine Verbreitung an. Die Grenzen seines Vorkommens sind klar definiert: Von Amerika bis nach Europa, vom Äquator bis zur Arktis. Zu den Gebieten, die der Blauflossen-Thun zusätzlich erobern konnte, zählen die Karibik, das Mittelmeer, der Golf von Mexiko und die Südspitze Afrikas.
Das Geheimnis seines Erfolgs: Anpassungsfähigkeit. Fische sind kaltblütige Tiere, ihre Körpertemperatur passt sich der Umgebung an. Damit der Blauflossen-Thun seinen hohen Stoffwechsel aber auch im Eismeer aufrecht erhalten kann, hat ihm Mutter Natur einen Trick mit auf seinen Weg gegeben. Als eine der wenigen Fischarten, schaffen es Thunfische, ihre Körpertemperatur über der Außentemperatur zu halten. Das Prinzip ist einfach, der Mechanismus raffiniert: Thunfische produzieren ihre eigene Wärme, in dem sie schnell schwimmen. Die Energie, die dabei entsteht, wird anschließend als Wärme an das Blut abgegeben.
Überhaupt sind Thunfische recht flinke Gesellen - davon zeugt schon ihr Name. „Tuna“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „rasen“ oder „eilen“. Und diesen Namen tragen die Fische zu Recht, denn sie erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 80 km/h. Das ermöglicht ihnen erst ihre sichelförmige Flosse, die unter Volllast 30 mal pro Sekunde schlägt. Für das menschliche Auge ist diese Frequenz gar nicht mehr wahrnehmbar.
Bei einem Gewicht von 700 Kilo und 80 Stundenkilometer entspricht der schwimmende Thunfisch einem Auto (der Marke Mini) auf der Schnellstraße. Absoluter Rekord. Normalerweise geht die Natur hier nach dem Prinzip entweder-oder vor: Entweder ein Schwergewicht, oder ein Raser. Doch der Nordatlantische Thunfisch vereint diese beiden Eigenschaften in sich.

Die alten Zeiten
Der Blauflossen-Thun zählt seit eh und je zu den beliebtesten Speisefischen der Menschheit. Das schnelle Schwimmen durchblutet seinen Körper. Es verleiht dem Fleisch eine tiefrote Farbe und lässt es auch noch nach der Zubereitung rot und saftig wirken.
Ernest Hemingway sah seinen ersten Thunfisch einst in der spanischen Hafenstadt Vigo - und hatte sich augenblicklich in seiner Anmut verloren. Er schrieb: Jeder, dem es gelänge, einen dieser gewaltigen Fische an Land zu bringen, kann unerschrocken in den Kreis der altehrwürdigen Götter eintreten.
Und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Zumindest nach damaligen Verhältnissen, denn im Jahr 1921 war die Fischerei noch nicht so ausgereift, wie heute. Moderne Fangtechniken steckten, wenn überhaupt, noch in ihren Kinderschuhen: Muskelkraft war gefragt. Es war die Zeit, in der der Thunfisch-Fang noch ein fairer Kampf zwischen Mensch und Tier war.
Die Fischerei war ein Kraftakt. Zugegeben: Die Methoden waren vielleicht genauso grausam wie heute; Gaffhaken, Schlagstöcke und Messer kamen zum Einsatz. Dafür hielt sich die Bejagung aber auch in Grenzen. Fischer und Fisch waren weniger distanziert und die Beziehung wurde bestimmt von Respekt. Respekt vor den Männern, die allen Wettern trotzten, und Respekt vor den gewaltigen Kräften, die sich hinter dem Fisch verbargen.
Heute sieht die Sache anders aus. Würde Hemingway heute diese Zeilen niederschreiben, käme das einem Kniefall vor einer millionenschweren Lobby gleich. Er würde sich Greenpeace, WWF und sämtliche anderen Naturschutzorganisationen auf den Hals hetzen. Und das knapp 90 Jahre später - eine vergleichsweise kurze Zeit, bedenkt man, wie lange die Evolution für ihr Werk gebraucht hat. Was war geschehen?

Sechs Häppchen Sushi und ein Untergang
Die kurze Antwort: In diesen 90 Jahren wurde der ehrbare Fischer zum habgierigen Geschäftsmann, sein Beruf bürokratisiert. Die einst lokale Fischerei entwickelte sich zu einer Millionen-Lobby. Die Fangmethoden wurden immer spezialisierter, Fischer und Fisch immer mehr distanziert.
Heute steht die Blauflossen-Thunfisch-Population vor dem Kollaps. Laut Umweltschutzorganisation WWF soll der Koloss schon in eineinhalb Jahren seinen letzten Flossenschlag tun.
Aber wie kam es soweit? Während der Untergang anderer bedrohter Tierarten durch Wilderei und Schwarzhandel bestimmt wird, braucht es beim Thunfisch gar keine illegalen Methoden. Auch wenn die illegale Fischerei ihren Teil zur Bedrohung beiträgt, so liegen die wahren Gründe woanders: Die Fangtechnik hat sich in den vergangenen 50 Jahren laufend verbessert. Eine Methode überholte die nächste, eine war effizienter, als die andere. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen die Fischer auf die offene See hinaus fahren und auf gut Glück ihre Netze auswerfen.
Die altbewährte Methode bestand darin, den Blauflossen-Thunfisch bei seiner Wanderung einfach abzufangen. Sachbuchautor Taras Grescoe beschreibt diese Szene sehr anschaulich in seinem Buch Der letzte Fisch im Netz. Thunfische würden „in immer kleiner werdende Netze getrieben, bis sie schließlich die „Todeskammer“ erreichen, wo sie mit drei Meter langen Gaffhaken getötet werden.“ Im traditionellen Sizilien nennt man dieses blutige Schauspiel mattanza.
Diese Methode wurde bald schon von radikaleren Techniken eingeholt. Unter Strom stehende Harpunen machten viel schnelleren Prozess mit den Tieren. Der Fang war weniger zeitaufwendig und die gewonnene Zeit konnte in mehr Ertrag umgesetzt werden.
Aber auch diese Methode wurde abgelöst. Die moderne Thunfischjagd wird am Meer und in der Luft ausgetragen. So absurd es klingen mag, die Sizilianer machten aus ihrer mattanza die Fliegende mattanza. Dabei kommt neben einem Schiff auch ein Kleinflugzeug zum Einsatz, meist eine Cessna. Sobald das Schiff Fanggründe erreicht hat, startet das Flugzeug seine Beobachtermission. Hat der Pilot eine Thunfisch-Gruppe gefunden, die es mengenmäßig wert ist, befischt zu werden, dirigiert er den Kapitän über Funk direkt zu ihr.
Grescoe hierzu: „Technische und wirtschaftliche Veränderungen haben den Thunfischfang vom vormals fairen Kampf zwischen Mensch und Tier zur Massenernte gemacht.“ Weiter schreibt er, ein Ringwadenkutter (Ringwade = ringförmiges Netz) müsse im günstigsten Fall nur einmal sein Netz auswerfen, um 300 Fische zu fangen. Für dieselbe Menge hätte ein Harpunenfischer früher zehn Jahre gebraucht!
Und das forderte seinen Tribut: Heute schwimmen im Atlantik nur noch sechs Prozent der ursprünglichen Thunfisch-Population. Laut WWF hat der Bestand seit den 1970ern um 40 Prozent abgenommen. Das sind zehn Prozent in einer Dekade und ein Prozent im Jahr von Blauflossen-Thuns, die aussterben. Noch! Denn die Fangmethoden werden stetig verbessert und noch dazu steigt der Druck auf die Unternehmen. Es ist ein Teufelskreis: Die Fischereien schöpfen mit ihren Netzen die Meere leer. Sie müssen ihre Fangmethoden also weiter entwickeln, um noch mehr Fisch zu fangen und den Standard zu erhalten. Das Meer wird weiter ausgeschöpft und die Unternehmen müssen noch mehr Fisch fangen, um ihre Arbeiter zu bezahlen.
Das Verschwinden der Fische und der Fischfang schaukeln sich gegenseitig auf: Aus dem Verschwinden entsteht die Notwendigkeit, mehr Fische zu fangen. Aus dieser Notwendigkeit entsteht wiederum das Verschwinden der Fische.
Zu diesem Wechselspiel kommt noch dazu ein enormer Druck auf die Unternehmen zu. Nicht nur, dass sie sich zunehmend für ihr Handeln verantworten müssen, der Druck steigt ebenso von der Seite des Marktes.
Der weltweit größte Exporteur von Blauflossen-Thunfisch ist Spanien, der größte Importeur Japan. Der Inselstaat ist der Abnehmer von stolzen 78 Prozent des weltweit gefangenen Thunfischs. Das spiegelt sich auch in der Ernährung der Bevölkerung wider: Ein Durchschnittsjapaner verzehrt pro Jahr 61 Kilo Fisch - vier mal so viel wie der Weltdurchschnitt. Umgerechnet ergibt das laut Taras Grescoe sechs Häppchen Sushi pro Japaner und Tag.
In Japan leben aktuell über 127 Millionen Menschen - 127 Millionen Fischliebhaber, 127 Millionen potentielle Kunden. Welches Unternehmen würde schon auf einen solch großen Markt verzichten, wegen ein paar Fischen?
Und selbst wenn Thunfischfang-Gegner den Versuch starten, ihren Liebling zu schützen, dann weiß das letztendlich immer noch einer zu verhindern: Japans Regierung selbst. Sie wehrt sich vehement gegen Gesetze, die den Thunfisch-Strom nach Japan abreißen lassen könnten. Aus ihrer Sicht durchwegs verständlich, weil Sushi aus dem Blauflossen-Thunfisch ein uraltes Gericht darstellt, das in der japanischen Kultur fest verankert ist. Einerseits hat die Regierung Traditionen zu wahren, andererseits auch die Natur. Es wäre zu einfach, sie als „gut“ oder „böse“ abzustempeln, sie befindet sich in einem Zwiespalt. Ein Zwiespalt zwischen Tradition und Veränderung, zwischen fest Verankertem und neu Auftretendem.
Wie sehr sich Japans Regierung gegen Schutzgesetze wehrt, wurde erst vor wenigen Monaten bei der Artenschutzkonferenz in Doha ersichtlich.

Das Warten auf den Umschwung
Das Problem des Thunfisch-Aussterbens ist lange bekannt. Der Ruf nach Schutzgesetzen gleicht einem alten Volkslied, denn er ist genauso alt, wie das Problem selbst.
Allerdings führt kein Weg um das Gesetz herum, es ist die einzige Möglichkeit, den Restbestand zu erhalten. Unternehmen würden den Selbstzerstörungsmodus aktivieren, sobald sie auf Nachhaltigkeit setzen, und ein Boykott wäre kaum wirksam genug.
Der erste Schritt wurde im Juni 2007 getroffen, als die EU die Verordnung 41/2007 erließ. Mit ihr wurden Schonzeiten für den Blauflossen-Thun verhängt - laut Naturschutzorganisationen eine Aktion, die kaum Wirkung gezeigt hat.
Über ein Jahr später erließ der EU-Fischereiminister Joseph Borg erneut ein Gesetz. Schiffe mit Ringwadennetzen sollten fortan für den Thunfischfang gesperrt sein. Auf dem Papier sollte der Plan aufgehen, tatsächlich wurden Ringwadenfischer beobachtet, schon wenige Tage, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war.
Der erste tatsächliche Erfolg gelang keiner Behörde, sondern den Hauptverantwortlichen selbst. Im Oktober 2008 trafen Japan und Spanien beim Weltnaturschutzkongress in Barcelona aufeinander und beschlossen ein Gesetz zum Schutz des Blauflossen-Thunfischs. In der kommenden Laichsaison sollte der Fang ganz eingestellt, den Rest des Jahres eingeschränkt werden.
Der erste Schritt schien getan, Japan hatte zum ersten Mal nachgegeben. Ab jetzt sollte es nur noch bergauf gehen. Tatsächlich dauerte es aber keine zwei Jahre, da kam der nächste Rückschlag. Der WWF Deutschland sollte ihn später noch als den „Kniefall von Doha“ bezeichnen.
Im März 2010 stimmten die Staaten bei der CITES-Konferenz (CITES = Washingtoner Artenschutzübereinkommen) in Doha über einen grenzüberschreitenden Handelsstopp für Thunfisch ab. Nur 20 Staaten unterstützten den Antrag, 68 stimmten dagegen - und 30 Ländern schien der Blauflossen-Thun nicht einmal ihre Stimme wert.
Den Antrag gestellt hatte Monaco. Die Mehrheit der Staaten hatte sich an diesem Tag zwar gegen seinen Vorschlag entschieden, doch das Fürstentum hat in diesem Zuge gleich den Anstoß für ein neues Schutzmodell geliefert. Wenn es schon keine internationale Einigung gibt, sollte dann nicht jeder Staat zu seiner eigenen Verantwortung stehen? Könnte der Thunfisch, wenn nicht global, dann zumindest regional geschützt werden - in Form von Einfuhrstopps und Handelsverboten? Monaco sagte Ja. Der Zwergstaat verbannte alle Thunfischgerichte von seiner Speisekarte und aus sämtlichen Supermarktregalen. Eine Aktion mit Modellcharakter und vielleicht ziehen ja schon bald andere Staaten mit.
Wünschenswert wäre es jedenfalls. Wenn nach dem Dodo auf Mauritius und dem Beutelwolf in Australien jetzt auch der Blauflossen-Thun aussterben würde, wäre das nicht nur ein tragischer Verlust für die Natur. Es würde der Menschheit auch ein weiteres Armutszeugnis ausstellen, den Beweis ihrer Unfähigkeit, zu Handeln.

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Foto 1: Thunfischschwarm, kein ©
Foto 2: Ringwadennetz, © User Reinhard Wikipedia unter der GNU-Lizenz
Foto 3: Thunfischmarkt in Tokio, © User Chris73 Wikipedia unter der GNU-Lizenz
Foto 4: Blauflossen-Thun, © User Opencage Wikipedia unter der GNU-Lizenz

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